Na, wer reibt sich verwundert die Augen und denkt "Was bitte ist ein emotionalen Dispo?"
Tatsächlich entspringt diese Begriffskreation einem Beispiel, das ich immer wieder gerne verwenden. Dabei geht es um unseren Kontostand bei der Bank. Anhand dessen versuchte ich, die Risiken dauerhafter Belastungen (bis zur Überlastung), Dritten gegenüber verständlich zu erklären. Da es mir dadurch oft gelang, den komplexen Zusammenhang einer emotionalen Überforderung anhand dieses greifbaren verständlich darzustellen, möchte ich dies heute hier mit euch teilen.
Für diejenigen, die Belastungen für sich nicht sehen und hier womöglich aufhören zu lesen, sei mir ein Hinweis erlaubt:
Es geht hierbei nicht ausschließlich um gravierende Schicksale wie Krankheiten oder Todesfälle!
Stattdessen sind es nur allzu oft die diversen (kleineren) Baustellen. Aber viele Kleinigkeiten können sich zusammenfassend auch zu einem großen Ganzen auftürmen. Wenn es beispielsweise neben Problemen in der Beziehung, plötzlich auch im Job schwierig wird. Es muss also nicht die eine existenzielle Krise sein, die extreme Anforderungen nach sich zieht. "Die größten Berge an Problemen, türmen sich oft aus Sandkörnern auf", las ich vor langer Zeit mal.
Aus diesem Blick betrachtet, erbringen viele, sehr viele Menschen bereits Höchstleistungen in ihrem Alltag- ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein. Deren Leistungspensum mutiert schnell zur erlebten (und dann dauerhaft gelebten) Normalität. Nur weil wir selbst aber etwas als normal ansehen, muss es das ja noch lange nicht sein!
So meinen wir ebenso, uns und unser Befinden im Blick zu haben, um rechtzeitig zu reagieren, wenn es doch zu viel wird. In der Realität sieht das aber anders aus! Inzwischen liegt nämlich das, was wir als Normalität bewerten, oft bereits über 100 Prozent.
Wie also da die Reißleine ziehen?
Und so haben viele Menschen einen besseren Überblick über ihren Kontostand und die finanziellen Reserven, als über die eigenen Kraft- oder Energiereserven.
Ein vergleichender Blick auf das Bankkonto, inklusive eines eingeräumten Dispokredits, erscheint passend. Gehen wir bei unseren Finanzen doch viel pragmatischer vor:
Je nachdem, was wir (!) als sinnvolle oder notwendige Ausgabe/Investition erachten, werden wir aktiv. Wir heben Geld ab, nutzen unsere Bankkarte oder tätigen eine Überweisung. Ist die Wahl des Zahlungsmittels egal, bleibt das Ergebnis stets das gleiche: Nach dem Kauf haben wir weniger als vorher!
Jetzt ist das Leben aber nicht immer komplett planbar (wenn wir uns diese Sicherheit und Verlässlichkeit auch noch so sehr wünschen). Unerwartete Entwicklungen können sich einstellen und die finanziellen Mittel gehen eher als gedacht zur Neige. Eine kaputte Waschmaschine, ein Schaden am Auto oder anderes. Die Gründe für einen finanziellen Mehrbedarf sind ebenso vielfältig und individuell wie wir Menschen (... oder unsere Schwäche, verlockenden Internet-Schnäppchen nachzugeben).
Was aber, wenn es trotz vorheriger Planungen, unerwartet eng wird?
Dann hilft uns der Dispokredit! Schnell und unbürokratisch... wenn auch nicht günstig. Das Unerwartete kann aufgefangen und eine Zahlungsunfähigkeit vermieden oder wenigstens aufgeschoben werden. Oder anders gesagt:
Selbst wenn nichts mehr da ist, sind wir trotzdem weiter handlungsfähig!
Diejenigen, die von anderer Stelle bereits Beträge von mir kennen oder meinen Roman gelesen haben, wissen vielleicht schon, worauf ich hinaus will. Selbst wenn nichts mehr da ist, sind wir trotzdem weiter handlungsfähig… dieser Satz lässt sich direkt auf unseren Umgang mit Kraft- und Energiereserven übertragen. Denn dieser Aspekt, aus nichts und bei verbrauchten Reserven dennoch handlungsfähig zu sein, bezeichne ich als den emotionalen Dispo!
Wenn es kaum noch Kraft zu geben scheint, gelingt es diesen Menschen regelmäßig immer noch etwas aus sich herauszuholen! Je länger belastende Zustände anhalten und je häufiger sie auftreten, desto intensiver sind wir gefordert. Alles was noch zusätzlich oben drauf kommt, müsste längst zum Zusammenbruch führen. Und dennoch… manche Menschen fallen nicht um, sondern finden immer wieder Wege, weiterzumachen.
Keiner weiß, wie diese Reserven mobilisiert werden.
Oder was deren Ursprung ist.
Aber irgendwie gelingt es.
Dennoch ist dies kein Allheilmittel! Vielmehr wird die Lage oft genug noch problematischer, weil das gewohnte Managen der Herausforderungen droht, jegliche Besonderheit oder Ausnahmestatus zu verlieren. ,,Was einen nicht umbringt, macht nur noch härter", ,,Das ist doch für Sie kein Problem" oder ,,Du hast schon ganz andere Sachen geschafft" sind typische Aussagen, die sogar Höchstleistungen zur Normalität degradieren können. Und da ja das Normale in unserer Gesellschaft nichts Besonderes ist und wir in der trügerischen Normalität unsere Grenzen aus dem Blick verlieren, geht es immer weiter und weiter. So wachsen Erwartungen nur umso schneller an, die über kurz oder lang kaum noch erfüllbar sind. Ist dieser Zustand erreicht, ist es schwer, aber umso wichtiger, seinen emotionalen Dispo im Blick zu behalten... und als das zu verstehen, was er ist:
Eine Möglichkeit, für eine gewisse Zeit über die eigenen Verhältnisse zu wirtschaften.
Eine gewisse Zeit… wohlgemerkt nicht als Dauerlösung!
Und nicht vergesse, dass ein Dispo irgendwann auch auszugleichen ist, anstatt sich weiter und weiter daran zu bedienen. Wie wird ein Dispo ausgeglichen? Indem man das, wo man sich zuvor bedient hat, wieder auffüllt! So reicht es bei der Inanspruchnahme des emotionalen Dispo nicht aus, von 120 Prozent (oder gar mehr) wieder auf 100 Prozent runterzugehen. So stellen es sich aber viele vor. Deshalb bleibt es beim Leben am Limit – stets spazierend auf dem schmalen Grat zwischen Be- und Überlastung. Anhand von Mathematik, die ich nie besonders beherrschte (ein Leid, was mein Sohn wohl von mir erbte), möchte ich gerne etwas zeigen:
120 Prozent (in der Hochphase) + 100 Prozent (in der Normalphase) = 220 %
Betrachten wir 100 Prozent als die maximale Belastung, wie stellt sich da die Situation in der vorherigen Formel da? Rechnerisch ergibt sich dabei eine durchschnittliche Last von 110 Prozent (Gesamtwert der Hoch- & Normalphase geteilt durch zwei), die schlichtweg zu groß ist (und was dennoch viele verdrängen). ,,Das ist gerade aber auch eine besondere Situation", ist eine häufige Ausrede, wird jemand auf kritische Zustände angesprochen. Oft ein Indiz dafür, dass eine Rückzahlung des Kredits immer weiter nach hinten geschoben oder längst vollends verdrängt wird. Nicht verwunderlich, nimmt man die Auslastung der Reserven gar nicht wahr. ,,Ich passe auf mich auf! Bald nehme ich mir mehr Zeit für mich", und so wird abgewartet, bis schließlich wieder bessere Zeiten kommen. Geht irgendwann doch jede schwierige Phase zu Ende. So rettet man sich zunächst von Wochenende zu Wochenende... danach von Urlaub zu Urlaub... und letztlich werden die Phasen der Anspannung länger und länger. Ein riskantes Spiel, wissen wir doch nicht, was eher zu Neige gehen wird:
Das Krisenpotenzial oder die letzten Reserven unseres emotionalen Dispo?
Vielleicht wird jetzt ketzerisch gefragt, ob ich auch Lösungen aufzeigen kann, wenn ich solche Umstände schon aufzeige. Nur den Finger in die Wunde legen reicht ja, nicht aus. Doch... halte ich dagegen!
Vielleicht löst es Probleme nicht ad hoc, aber es sensibilisiert dafür, ein endloses Ausweiten des Kredites und Höchstleistung auf Pump, keine Lösung ist! Irgendwann sollten die persönlichen Lebensumstände einen Stand jenseits der Überlastung erreichen. Die Lösung kann nur sein, die Rahmenbedingungen Stück für Stück zu verändern, um dorthin zu kommen.
Ich weiß, dass dies schwer sein kann. Aber käme jemand auf die Idee, eine finanzielle Sicherheit/Unabhängigkeit, durch immer mehr und mehr Kredite aufzubauen? Neue Belastungen, um vorherigen Belastungen auszugleichen? Das wäre eine Idee, mit der wir jeden Finanzdienstleister, der so etwas vorschlägt, aus dem Haus jagen würden!
Komisch, dass wir mit unseren emotionalen Belastungssituationen auf genau diese Weise verfahren. Bis wir den letzten Rest des Dispo bis zur Erschöpfung (im wahrsten Sinne des Wortes!) ausgereizt haben.
Ich wünsche daher die Wachsamkeit und den Mut, die persönliche Situation zu hinterfragen. Manches ist schwer und nicht alles können wir beeinflussen. Gewisse Möglichkeiten hat aber jeder und können so mehr verändern, als wir (manchmal) glauben. Dazu gehört der Wille, es anzugehen, und der Mut, sich auf einen veränderten und noch unbekannten Weg zu machen. Für nicht wenige der schmerzliche Moment, wo es gilt, beispielsweise das Nein-Sagen zu lernen. Das mag ungewohnt bis befremdlich sein... aber Probleme lösen sich selten auf die gleiche Weise, wie sie entstanden sind (sagte Einstein schon). So wenig, wie ich einen Kredit mit neuen Krediten reduziere, verschwinden auch Überforderungen nicht mit dem gebetsmühlenartigen ,,Weiter so"!
Viel Erfolg... und noch mehr Mut!
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Christiane (Samstag, 05 November 2016 13:51)
Danke für den Text. Du bringst es sehr gut auf den Punkt und ich hoffe das mancher es liest und sich erkennt.